Eine Perspektive für die Chancenlosen
An der Wand über der Couch von Claudia Peña hängen Familienfotos. Täglich fragt die 23 Jährige ihre 15 Monate alte Tochter Brittany Paola: „Wo ist Papa?“ Dann zeigt die Kleine auf das Gesicht eines jungen Mannes mit markanten Augenbrauen und ernstem Gesicht. Dass er einmal mehr war als ein Foto, daran kann sie sich nicht erinnern.
Über dem Portrait hängt eine weitere Aufnahme. Sie zeigt Claudia, wie sie denselben Mann umarmt. Sie sind am Strand. Am Tag, nachdem Oscar Rivas aus dem Gefängnis entlassen wurde, wollte er ans Meer. Rivas war der Chef der Jugendbande Mara Salvatrucha (MS) im Viertel Montreal, einem der ärmsten im Stadtbezirk Mejicanos, ganz im Norden der Hauptstadt San Salvador. Er hatte das Sagen im Viertel – bis zu jenem Tag im Februar 2015, an dem er bei einer Razzia von der Polizei erschossen wurde.
Die Polizei kam oft hier vorbei, auch nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis. Sie warf ihm vor, an dieser oder jener Straftat beteiligt gewesen zu sein; beweisen konnte sie ihm nie etwas. Der Konflikt zwischen den zunächst nur kleinkriminellen Gangs, den sogenannten Maras, und dem Staat ist bereits vor über zwanzig Jahren eskaliert. Die Polizei ging stets nur mit Gewalt gegen die Jugendlichen vor. Die wehrten sich und wurden immer professionellere Kriminelle. Heute haben die Banden in El Salvador über 60.000 Mitglieder und kontrollieren ganze Stadtteile.
Das Haus von Claudia ist klein und armselig. Es gibt nicht einmal eine Abwasserleitung. Fast alle Häuser sind so in Montreal: kleine Hütten aus Blech, die sich an die grünen Hügel schmiegen. Die Straßen sind aus festgetretener Erde, es häuft sich der Müll, es riecht nach vermodertem Schlamm. Die örtliche Mara hat das Viertel im Griff. Die Zulieferer der kleinen Läden müssen jedes Mal, wenn sie vorbeikommen, fünf US-Dollar Wegegeld zahlen. Taxis weigern sich, Fahrgäste nach Montreal zu bringen.
… (Text: Cecibel Romero)