
Die Last der späten Einsamkeit
In diesen Jahren, Hu Linshan war ein junger attraktiver Mann im heiratsfähigen Alter, wurden Besitzer von Acker und Land schlecht angesehen. Hu fand keine Frau, die ihn heiraten wollte, und so blieb er allein. Jetzt ist er 74 Jahre, lebt ohne Familie auf dem alten Hof und hält recht mühsam seine Versorgung aufrecht. Die Landwirtschaft hat er aufgegeben, eine kleine Grundrente sichert das bescheidene Auskommen. Gelegentlich besucht ihn sein jüngerer Bruder auf dem ehemals elterlichen Hof.
Das Haus hat Hu mittlerweile seinem Neffen überschrieben, gegen ein lebenslanges Wohnrecht und die Zusicherung, dass der Neffe es instand hält. Hu nutzt nur noch einen Raum, der hinter beschlagenen Fenstern im Halbdunkeln liegt. Das alte Fernsehgerät funktioniert seit Jahren nicht mehr, aber dem alten Mann fällt es schwer, sich von seinem wenigen Hab und Gut zu trennen. Die Kochstelle wird mit Holz gefüttert, sie ist gleichzeitig der Heizofen für den Raum, allerdings mit zu wenig Wärme in den kalten chinesischen Wintern. Hu beklagt sein Schicksal nicht, aber er weiß, dass das Leben es nicht immer gut mit ihm gemeint hat. Früher wurde er diskriminiert, weil er Land besaß und nicht in die kommunistische Ideologie passte. Heute, im Alter, wird er geächtet, weil er keine Kinder hat. Ohne Nachkommen, besonders ohne Sohn zu leben, bedeutet in China den Verlust des gesellschaftlichen Ansehens.
Die Großfamilie gibt es nicht mehr
Mit 185 Millionen über 60-Jährigen, mehr als zweimal so viele wie Deutschland Einwohner hat, ist China das Land mit den meisten alten Menschen der Welt. Bisher galt als selbstverständlich, dass Kinder für ihre Eltern sorgen, bis zu deren Tod. Aber Hu hat keine Kinder, und es gibt auch keine anderen Familienangehörigen, die mit ihm die Last des Alters teilen. Der Bruder ist selber auf Unterstützung angewiesen, der Neffe lebt in der weit entfernten Stadt und kommt nur selten nach Hause. Hu verbringt die meisten Stunden des Tages allein, er lebt zurückgezogen, hat wenig soziale Kontakte. Nach unseren Maßstäben ist Hu einsam.
Großfamilien gab es in Hu’s Dorf unweit der Stadt Xingtai zu einer Zeit, als China noch ein Bauernstaat mit ländlichen Strukturen war. Aber im modernen China von heute entstehen Arbeitsplätze in den Industriezentren der Städte. Von den Jüngeren wird deshalb Mobilität erwartet, sie verlassen die Dörfer und suchen Glück und Einkommen fern ihrer Heimat. Die familiären Strukturen lösen sich auch in Asien immer mehr auf.
Heute morgen hat sich Hu auf den Weg zur katholischen Kirche gemacht, die zehn Kilometer ist er mit dem Bus gefahren. Zweimal im Jahr laden Ehrenamtliche der Gemeinde alleinstehende Männer und Frauen der Umgebung zu einem Wellness-Tag ein. Geselligkeit, Körperpflege, eine warme Mahlzeit, Kleiderspenden, der gemeinsame Gottesdienst zum Abschluss: Die einsamen Menschen sollen ein Gemeinschaftsgefühl erleben.
Im Pfarrhof herrscht geschäftiges Treiben. An einem kleinen Tisch im Schatten misst die Ärztin kostenlos Puls und Blutdruck. Wenn sie feststellt, dass es ernsthafte gesundheitliche Gefährdungen gibt, regt sie einen Arztbesuch an. Dabei weiß sie, dass viele den Gang zum Mediziner scheuen.
Das chinesische Gesundheitswesen bietet den Menschen nur eine minimale Grundversorgung, sodass eine Behandlung schnell hohe Kosten verursachen kann. Hu Linshan hört, dass er niedrigen Blutdruck hat, für den alten Mann kein Grund zur Sorge, auch sein Schlaf ist gut. Den Wellness-Tag nutzt er, um sich die Haare waschen und schneiden zu lassen, ebenso die Finger- und Fußnägel. Besonders genießt Hu die Fußwaschung. In einer langen Reihe sitzen vorwiegend Männer und nur wenige Frauen nebeneinander, scherzen mit ihren jungen Betreuern und genießen die Zuwendung, die sie an diesem Tag erfahren.
Pfarrer Paul Xi hat innerhalb weniger Jahre einen weitverzweigten Besuchsdienst für alte einsame Menschen in seinen Gemeinden rund um Xingtai aufgebaut. 200 Freiwillige kümmern sich um etwa 600 Menschen, darunter auch 80 jüngere Menschen mit Behinderungen, die ohne gesellschaftlichen Anschluss in ihren Familien leben. Zurzeit gibt es elf Gruppen, in denen die Freiwilligen organisiert sind. Pfarrer Xi nennt den Verbund Vincentian Fraternal Familiy, eine Gemeinschaft, die sich an den Ideen des heiligen Vinzenz von Paul orientiert. Der Priester lebte von 1581 bis 1660 in Frankreich und gilt als Begründer der neuzeitlichen Caritas. Weil die Einsamkeit der Alten häufig unentdeckt bleibt, ist die erste Hürde herauszufinden, wo alte Menschen leben, die keinen Familienanschluss haben. „Wir gehen in die Dörfer, oftmals von Haus zu Haus, um herauszufinden, wer unsere Hilfe benötigt“, sagt Pfarrer Xi.
Der Pfarrer ist für vier Gemeinden zuständig, die meisten Alten, die betreut werden, hat er persönlich besucht. Dabei richtet sich das Projekt nicht zuerst an Katholiken, die Mehrheit seien keine Christen, schätzt der engagierte Priester. „Das Schlimmste für diese Menschen ist, dass sie total missachtet werden, dass keiner von ihnen etwas möchte, nur weil sie keine Nachkommen haben“, beklagt Xi. Viele seien in ihrer Einsamkeit so verzweifelt, dass sie in ihrem Leben keinen Sinn mehr sähen und einen Ausweg im Suizid, in der Selbsttötung suchten. Vor wenigen Monaten erst habe ein Mann wochenlang tot in seinem Zimmer gelegen, ohne dass es jemand bemerkt hat. So hat der Priester es sich zur persönlichen Aufgabe gemacht, möglichst viele Mitwirkende für den Besuchsdienst zu gewinnen. Seine schlichte Rechnung: Je mehr mitmachen, umso mehr Bedürftige können besucht und betreut werden.
Zum diesjährigen Treffen aller Neu-Interessenten kamen immerhin 300 Menschen, die sich eine Arbeit im Besucherdienst vorstellen können. Es sind überwiegend Frauen, viele im Alter von 30 bis 50 Jahren, die im Freiwilligendienst der Vincentian Fraternal Family mitmachen wollen. Dabei ist es in der chinesischen Gesellschaft nicht selbstverständlich, sich um Menschen ausserhalb der eigenen Familie zu kümmern, trotz der auf Gemeinschaft ausgerichteten kommunistischen Ideologie.
Eine Aufgabe fürs Leben
Einer, der sich mit viel Zeit und Kraft engagiert, ist Tan Zhongbo. Er gehört zum Leitungsteam des freiwilligen Besuchsdienstes und ist mehrmals in der Woche und jedes Wochenende unterwegs, um Menschen zu besuchen. Die Fürsorge für einsame Menschen sei für ihn zur Lebensaufgabe geworden, berichtet er. Der erfolgreiche Geschäftsmann handelt mit Weizen und führt ein Teegeschäft. Er ist verheiratet und Vater von vier Kindern, drei Mädchen und ein Junge, wie er stolz aufzählt.
Das soziale Engagement habe ihn verändert, gesteht er: „Ich war als Jugendlicher sehr gewalttätig, in meiner Familie gab es keine Liebe. In der Arbeit mit den alten Menschen übernehme ich heute Verantwortung, und das macht mir viel Freude.“ Als Gruppenleiter koordiniert er den Besuch der Freiwilligen bei den alten Menschen. Wenn ihm zugetragen wird, dass Lebensmittel oder Kleidung gebraucht werden, organisiert er dies ebenso wie die medizinischen und pflegerischen Hilfen, die von Fachkräften übernommen werden, die unter den Mitgliedern der Laiengruppe zu finden sind.
Kirche soll Vorbild werden
Tan Zhongbo und die Mitglieder der Vincentian Fraternal Family sehen in den Häusern viel Armut, Krankheit und Einsamkeit. Angesichts der schnellen Alterung der chinesischen Gesellschaft und der Auflösung der Familienstrukturen werden in China deutlich mehr soziale Hilfen und medizinische Pflege für Senioren benötigt. Dazu braucht es fachlich geschultes Personal. Welchen Beitrag kann hierzu die Kirche leisten? Es gibt einige von Ordensschwestern geführte Altenheime, nach Einschätzung von Fachleuten allerdings deutlich zu wenige. Aber: Auch Chinesen wollen ihren Lebensabend nicht im Heim verbringen. Zudem binden stationäre Einrichtungen mehr Ressourcen als ambulante Dienste und erreichen weniger Menschen. Deshalb plädiert die Vincentian Fraternal Family für mehr ambulante Pflegedienste, damit die Menschen im Alter in ihrer vertrauten Umgebung bleiben können. Als Ergänzung zur medizinischen Pflege hat die Gruppe in einigen Gemeinden ein wirkungsvolles Netzwerk aufgebaut, mit dem Menschen zuhause begleitet werden können. Mit überschaubarem Aufwand kann viel erreicht werden.
„Durch das, was wir für die vereinsamten Menschen tun, hat Jesus sein Blut nicht umsonst vergossen“, sagt Zhongbo.
Text: Jobst Rüthers